Rezensionen

Jens Voigt: Shut up Legs – Meine Profijahre

Verlag Delius Klasing, 284 Seiten

Unter Radsportbegeisterten genießt „Jensie“ Voigt noch heute Kultstatus. Der König der Ausreißversuche begeisterte die Fans durch seine unkonventionelle Fahrweise und seine symphatische, nahbare Art. Als Profi, der auf den großen Rundfahrten weder Chancen auf die vorderen Plätze der Gesamtwertung noch auf Sprintsiege hatte, etablierte er seine ganz persönliche Form der „Abteilung Attacke“. In den irrwitzigsten Momenten des Rennens wagte er Vorstöße, die mitunter zu stundenlangen Alleinfahrten aber nur selten zu Siegen führten. Gerade der Mut, das Unmögliche zu versuchen, machte Voigt populär. Mindestens genauso bemerkenswert war sein Teamgeist. Wie kaum ein anderer verstand er Radrennen als Mannschaftssport und stellte sich ohne „Wenn und aber“ in den Dienst seiner Kollegen. 2014 beendete er seine Profikarriere, während der er u.a. 17 mal bei der Tour de France gestartet war.

In seiner Biographie lässt er die Jahre auf dem Rad (insgesamt hat er darauf nach eigener Rechnung fast 1 Million Kilometer zurückgelegt) auf sehr authentische und unterhaltsame Weise Revue passieren. Oft scheint es, als wundere er sich selbst darüber, dass sich ausgerechnet er, der bodenständige „Jensie“ aus MeckPomm, in der Champions League des Radsports etablieren konnte. Und das ohne das vermeintlich sichere Umfeld eines deutschen Rennstalls, sondern in französischen, dänischen oder belgischen Teams. Natürlich darf das Thema Doping nicht fehlen, schließlich erlebte Voigt die großen Skandale um Festina, Lance Armstrong oder das Team Telekom aus nächster Nähe. Speziell in diesen Kapiteln wird klar, wie schwer es selbst für ehrliche Fahrer mitunter war, sich für sauberen Sport einzusetzen. Ob er bei positiv getesteten Mannschaftskollegen wirklich nichts mitbekommen oder einfach nur weggeschaut hat, bleibt sein Geheimnis. Möglicherweise wollte er nicht im Nachhinein noch (ohnehin) schmutzige Wäsche waschen und die Dinge, die geschehen sind, im Sinne der alten Kameradschaft ruhen lassen. Dennoch gehören vor allem die Innenansichten der Teams, inklusive Details zu Training, Technik und Renntaktik, zu den stärksten Passagen. Alle, die selber gern im Rennsattel sitzen oder sich nichts Schöneres vorstellen können, als bei Eurosport stundenlang der Übertragung einer Bergetappe beizuwohnen, dürfen sich daher auf jede Menge Insiderwissen freuen.

Voigt, inzwischen sechsfacher Vater, erzählt in einfacher, schnörkelloser Sprache und mit der richtigen Portion Selbstironie. Er ist auf dem Boden geblieben. Und so glaubt man es auch unbesehen, dass der Ex-Profi, der inzwischen als Berater bei Trek Factory Racing arbeitet und außerdem mit „Shut up legs“ seine eigene Marke für Radsportbekleidung betreibt, nach wie vor selbst den heimischen Rasen mäht. Ob er heute gelegentlich noch auf dem Bike sitzt, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber immer, wenn auf der Grunewaldrunde (auf der er früher oft trainiert hat) ein hochaufgeschossener Mitvierziger an mir vorbei zieht, denke ich für einen Moment „Shut up legs … das könnte Jensie sein.“ Doch nach wenigen Pedalumdrehungen belasse ich es bei dem hoffnungslosen Versuch, mich davon zu überzeugen, ob meine Vermutung richtig war …

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