Textprobe

Flirten für Fortgeschrittene

Im digitalen Zeitalter verlieren Bibliotheken an Bedeutung. Dabei kann man zwischen den Bücherregalen viel mehr finden als die passende Lektüre.

Kennen Sie „Du willst mich küssen“, einen der frühen Hits der „Ärzte“? Dann fällt ihnen bestimmt auch die erste Zeile ein. Na gut, wir helfen nach: „Ich war gerade auf dem Weg in die Stadtbibliothek, da habe ich mein Herz verloren“. Nicht erst seit diesem Song weiß der geneigte Musikkenner: Bibliotheken mögen Orte der Ruhe sein, vor allem aber sind sie Kontaktbörsen für Singles (oder solche, die mal kurz vergessen haben, dass sie keine sind).

„Psst – nicht reden!“ ist die erste Regel, die Flirtwillige in Bibliotheken zu beachten haben. Allenfalls flüstern ist erlaubt, was Anmachsprüchen sofort eine völlig andere Note verleiht. Die Atmosphäre ist gedämpft, aber unaufgeregt. Zunächst gilt es, die Antennen auszufahren, um Signale anderer flirtbereiter Wesen zu orten. Das kann ein Lächeln sein, ein viel sagender Blick oder eine Strähne, die verstohlen aus dem Gesicht gestrichen wird. Die Auswahl ist groß. Hier ist für jeden das Passende dabei. Hornbrillenträger und Hippiemädchen, Surfpoeten und Minirockerinnen, Siegelringtypen und Lateinlehrerinnen, Rübezahlbärte und Kurzhaarblondinen, Denker und Dichter, Dicke und Dünne, Alte und Junge, Europäer, Asiaten, Afrikaner – alle sind sie da und haben eines gemeinsam: Sie lieben das Lesen! Nichts ist also einfacher zu arrangieren als eine flüchtige Begegnung vor einem der Regale, weil man sich rein zufällig gerade für denselben Autor interessiert.

Neulinge können es auch gern mit einer geflüsterten Frage versuchen und auf die Hilfsbereitschaft der Mitleser bauen (wo stehen hier bitte die Philosophen?). Später trifft man sich dann am Kaffeeautomaten, an der Buchausgabe oder vor den Schließfächern und kommt ganz nebenbei ins Gespräch. worüber? Das sei der Phantasie überlassen. Und falls Ihnen zu einem Thema mal nichts einfällt – kein Problem. Hauptsache, Sie wissen, wo’s steht.

Dieser Text erschien in "X-MAG", dem Kundenmagazin von Heymann Brandt de Gelmini.

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