Rezensionen

Die zehn besten CDs des Jahres 2021

 

Platz 1: LONDON GRAMMAR – California Soil

Nach 2017 schafft es das Trio aus Nottingham bei mir zum zweiten Mal aufs oberste Treppchen. Dabei war ich nach der Veröffentlichung im April nicht gleich in Jubel ausgebrochen. Die Zutaten – Indie-Folk und Dream-Pop plus eine fesselnde Stimme, die nicht von dieser Welt zu sein scheint – sind zwar unverändert. Doch daran, dass London Grammar-Songs plötzlich tanzbar sind, musste ich mich erst gewöhnen. Zur Melancholie, die den Sound der Band ausmacht, kommen diesmal auch fröhliche Momente hinzu – ohne, dass London Grammar deswegen gleich „leicht bekömmlich“ werden.

Nach einigen Durchläufen hatte ich mich mit dem neuen Sound jedoch mehr als angefreundet und festgestellt, dass sich am Ende doch gar nicht so viel verändert wie befürchtet. Das musikalische Spektrum ist auf „California Soil“ zwar deutlich breiter gefächert als zuvor – es kommen Elektropop- und Deep-House-Elemente hinzu – doch Hannah Reids unverkennbarer Gesang hält den Laden nach wie vor zusammen. Sie bekommt ausreichend Gelegenheit, ihre stimmlichen Qualitäten unter Beweis zu stellen.

Die Texte drehen sich um Sexismus in der Musikindustrie, zerbrechende und beginnende Beziehungen und den Tod des amerikanischen Traums. Meine persönlichen Favoriten: „Call your friends“, das noch am ehesten mit den Vorgängeralben zu vergleichen ist, das folkig-düstere „America“ sowie das herrlich verliebte „Baby ist you“. Übrigens: Auch in UK ging das Album genau wie der Vorgänger wieder auf 1.

 

Platz 2: WOLF ALICE – Blue Weekend

Jetzt, beim Schreiben der Rezension, fällt mir auf, dass die Parallelen zwischen Wolf Alice und der Nummer 1, London Grammar, nahezu gespenstisch sind: Beide kommen aus England, für beide ist es das dritte Album, beide erreichten die Spitze der britischen Charts und beide haben eine blonde Frontfrau. Das war es dann aber mit den Gemeinsamkeiten.

Von dem Image, eine reine Rockband zu sein, haben sich die Gewinner des begehrten Mercury Prize (2018) sehr gekonnt gelöst. Das Setting wurde aufgefächert und der Sound konsequent weitergedacht. Die neue musikalische Bandbreite ist erstaunlich. Denn was bei anderen Bands leicht zur Beliebigkeit führt, bleibt bei Wolf Alice immer authentisch. Jeder Song der Platte entfaltet eine ganz eigene Stimmung.

„Blue Weekend“ beginnt mit dem sanften, melancholischen „The Beach“. Ellie Rowsell singt von einer Beziehung, die offenbar in die Brüche ging. Fast hymnenhaft mit Momenten, die beinahe schon an Abba erinnern, geht es im herrlich verträumten „Delicious things“ weiter. Mit dem lässigen „Lipstick on the glass“ folgt mein persönliches Lieblingsstück der Platte. Es erzählt vom Verzeihen nach einer Affäre und allmählich versteht man, dass Ellie auf dieser Platte die Geschichte einer Beziehung erzählt. Das nächste Stück "Smile" kommt eher elektrorockig daher und hätte auch Muse gut zu Gesicht gestanden. Ganz anders dann “Safe From Heartbreak”, folkig mit 70er-Jahre Harmonien. Die Sängerin schwört, sich nie wieder zu verlieben. Mit „Play The Greatest Hits“ erinnert die Band daran, dass sie es auch punkig krachen lassen können und das festliche „The last man on earth“ ist eines dieser Stücke, bei dem man schon nach den ersten Tönen weiß, dass man gleich mächtig Gänsehaut bekommen wird – auch wenn man den Refrain noch gar nicht gehört hat. “No Hard Feelings” zieht schließlich den Schlussstrich unter die thematisierte Beziehung – ohne Bitterness. Am Ende scheint Ellie wieder am Meer zu stehen und über die Zukunft nachzudenken. Eine neue Liebe wird kommen. Hoffentlich aber zunächst eine Deutschland-Tour und bald eine neue Platte.

Platz 3: SAM FENDER – Seventeen Going under

Ganz ehrlich, Sam Fenders erste Platte (die vor drei Jahren immerhin die UK-Charts stürmte) ging völlig an mir vorbei. Aber „Seventeen going under“ überholte in den letzten Wochen Stück für Stück höhergewettete Konkurrenten und gewinnt verdient Bronze.

Nun würde ich Fender trotz seines tollen Songwritings zwar noch nicht auf die Stufe mit den jungen Gallaghers, mit Damon Albarn oder Jarvis Cocker stellen. Aber hier wächst etwas Gleichwertiges heran. Was die genannten Herren in den letzten Jahren hervorbrachten, kann der junge Mann aus North Shields schon locker toppen.

Näher als ein Vergleich mit den Brit-Pop-Ikonen liegt einer mit Bruce Springsteen. Denn die Songs leben nicht nur von einer klaren, einfachen Melodieführung, einem markanten E-Gitarren Sound, Drums und Fenders Stimme, sondern auch von Elementen wie Saxophon, Mundharmonika, Glockenspiel und Streichern. Dabei gelingt dem Briten das Kunststück, kein bisschen nostalgisch, sondern zu hundert Prozent nach 2021 zu klingen.

In den Songs geht es um die Herausforderungen des Erwachsenwerdens mit allen Wirrungen und Irrungen, um das Vergeuden der Jugend, die toxische Seite von Kindheitserinnerungen und die politische Lage in England. Verbitterung und Euphorie spielen Ping Pong. Dabei muss Fender keine Rolle einnehmen oder sich in puncto „Street credibility“ inszenieren. Er ist so gnadenlos echt, dass man ihm jedes Wort glaubt.

Es lohnt bei Fenders Songs, die nach ruhigen Beginn oft eine erstaunliche Kraft entwickeln, auch auf die Texte zu schauen. So geht es zum Beispiel in dem traurig schönen „Spit of you“ um das schwierige Verhältnis zu seinem Vater, den er bei allen Differenzen dennoch liebt. „Paradigms“ – einer meiner Favoriten auf dieser Platte – thematisiert die Selbstzweifel und fragt, woher sie kommen. Der Song wirkt wie eine kurze Zusammenfassung des gesamten Albums. Mit „The Dying Light" gelingt Fender schließlich ein Meisterwerk. Es ist der unangefochtene Höhepunkt der Platte. Es wird von Klavierklängen dominiert und beginnt wie ein Elton John-Song. Fender führt den Hörer durch die tristen Straßen von North Shields. Alles wirkt wie immer, doch am Ende scheint der Himmel aufzuklaren, die Sonne kommt raus. Er erkennt, dass er nicht allein ist und es keinen Grund dafür gibt, aufzugeben. Es ist einer dieser Einer-aus-Zehntausend-Songs, bei dem es vorkommen kann, dass dir mit einem Mal die Tränen in die Augen schießen.

Nach dem Hören musste ich erstmal tief durchatmen. Um kurz drauf „Repeat“ zu drücken.

 

Die Platten des Jahres 2021

1. London Grammar „Californian Soil"

2. Wolf Alice “Blue Weekend”

3. Sam Fender “Seventeen going under“

4. Modest Mouse “The golden casket”

5. KVB “Unity”

6. The Killers “Pressure Machine”

7. Half waif “Mythopoetics”

8. Nation of Language “A way forward”

9. Torres “Thirstier”

10. Maximo Park “Nature always wins”

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