Rezensionen

Die zehn besten CDs des Jahres 2020

Auch wenn 2020 ansonsten nicht viel Brauchbares abgeliefert hat: Musik gab es ausreichend und für meine persönliche Top Ten der besten Alben hat es allemal gereicht.

Platz 1: SIGUR ROS – Odins Raven Magic

Genau genommen ist “Odins Raven Magic“ eine Mogelpackung. Die Aufnahmen entstanden bereits 2004. Zudem ist das Werk eine Zusammenarbeit von Künstlern, bei der Sigur Ros nur Teil des Teams waren. Möglicherweise soll die Veröffentlichung sogar ein bisschen davon ablenken, dass die Band nach den Anschuldigungen gegen ihren Drummer Orri Páll Dýrason vor einer ungewissen Zukunft steht. Das alles ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass die Isländer hier ein Meisterwerk vorgelegt haben, wie es vermutlich nur aus dem Land der Elfen, Geister und Trolle kommen konnte.

Mit Unterstützung der Schola Cantorum of Reykjavik und dem L’Orchestre des Laureats du Conservatoire national de Paris vertonten Sigur Ros gemeinsam mit dem Filmmusikkomponisten Hilmarsson das mehr als 500 Jahre alte isländische Poem "Hrafnagaldr Óðins", eine erstaunlich zeitgemäß anmutende Geschichte: Die Welt ist aus den Fugen geraten, weshalb Odin zwei Raben in eine mysteriöse Unterwelt schickt. Sie sollen von einem Orakel den Grund für das Chaos und etwaige Lösungen erfragen. Doch das Orakel weigert sich, sich zu äußern und schickt die Raben zurück.

Zugegeben, für diese Information brauchte ich den Pressetext, denn um vom Inhalt etwas mitzubekommen, müsste man schon des Isländischen mächtig sein. Aber die dunkle, beängstigende Stimmung des Poems wird auch durch die Musik ganz hervorragend transportiert. “Odins Raven Magic“ schillert im Wettbewerb mit anderen Alben in 2020 „erhaben wie eine Polarnacht“ (wie ein Kollege es wunderbar formulierte). Es ist ein Orchesterwerk, auf das man sich einlassen muss. Das bedeutet „Platte hören“ wie in alten Zeiten“, also am Stück, ohne Ablenkung und häufiger als nur einmal. Die Belohnung ist garantiert, auch wenn das, was Sigur Ros-Fans (vermutlich) erwarten erst in „Dagrenning“, dem letzten Track der Platte hervortritt: Und zwar in Form eines langsam anschwellenden Bombasts und einer hypnotischen Percussion, die mit einer Steinmarimba erzeugt wurde. Ein durchaus angemessenes Instrument. Denn mit diesem märchenhaften Album klopfen Sigur Ros endgültig an der Tür zum musikalischen Walhalla.

Platz 2: GORDI – Our two skins

Die Story ist fast zu gut, um wahr zu sein: Statt mit ihrer neuen Platte um die Welt zu reisen, schuftete die studierte Medizinerin Gordi (mit bürgerlichem Namen Sophie Payten) aufgrund der Corona-Notlage in einem Krankenhaus ihrer australischen Heimat.

Es wäre ihr zu wünschen, dass sie die Tour irgendwann nachholen kann und viele dieses wunderschöne Album kennenlernen können. „Our Two Skins“ steckt voller Emotionen, Zärtlichkeit und Tiefe. Über die gesamte Spieldauer hält die Platte ein erstaunlich hohes Niveau. Es gibt keinen einzigen Song, der abfällt oder wie Füllwerk rüberkommt. In den sorgfältigen zurückgenommen Arrangements (vor allem bei „Volcanic“) scheint der Einfluss von Bon Iver durch, bei dem Gordi Background-Sängerin war. In den poppigeren Stücken wie "Unready" oder „Sandwiches“ erinnert mich die Stimme der Australierin gelegentlich an Aimee Mann. Berührender Höhepunkt des Albums ist der Opener "Aeroplane Bathroom". Ich habe selten eine so intime und zerbrechliche Klavierballade gehört. Den Text hatte die Künstlerin auf einem Flug von Australien nach Europa geschrieben, als sie eine, wie sie sagt, durch Selbsterkenntnis ausgelöste Panikattacke überstehen musste.

Es ist Gordi von ganzem Herzen zu wünschen, dass sie beim Timing ihrer nächsten Veröffentlichung mehr Glück hat. So gut sie auch als Ärztin sein mag: mit ihrer Musik kann sie tausend Mal mehr Wunden heilen.

Platz 3: WOODKID – S16

Sieben Jahre hat es gedauert, bis Yoann Lemoine alias Woodkid einen Nachfolger seines fulminanten Debüts „The Golden Age“ ablieferte. Der 37-jährige Franzose dürfte dennoch nicht auf der faulen Haut gelegen haben. Versteht er sich doch nur zu 50 Prozent als Musiker. Die andere Hälfte seines Schaffens gehört dem Film. Als Musikvideoregisseur ist er ebenfalls ein ganz Großer. Regelmäßig räumt er mit seinen Produktionen Preise ab. Ungeachtet dessen waren die Erwartungen an seine neue Platte brutal hoch. Platz 3 in meiner Jahreswertung beweist, dass er zumindest bei mir wieder voll ins Schwarze getroffen hat. 

„S16“ ist Musik für die ganz große Leinwand. Der Albumtitel steht für die Position von Schwefel im Periodensystem. Schwefel ist ein Grundbaustein des Lebens, zugleich aber auch das Symbol des Teufels. In ähnlicher Dualität stehen sich hier die voranschreitende Technisierung unserer Gesellschaft und die Zerstörung unserer Umwelt gegenüber. Musikalisch übersetzt Woodkid das in gewaltige, kaum beherrschbare Klangbilder, die wie dystopische Orchesterarrangements wirken. 

Industrial-Elemente, wuchtige Percussion, ratternde Beats und blecherne Synthesizersounds treffen auf Chöre, Bläser- und Streicherpassagen. Das Ganze wird durch Woodkids unverkennbaren, rauchigen und immer ein wenig verletzlich klingenden Gesang veredelt. In dieser Stimmigkeit habe ich das in den letzten Jahren allenfalls bei Nick Cave erlebt. „S 16“ ist fraglos ein Gesamtkunstwerk. Dennoch ragt „Minus Sixty One“, das letzte Stück des Albums, wie ein Leuchtturm heraus. Woodkid hat es mit dem japanischen „Suginami Junior Chor“ aufgenommen. Nie war Weltuntergang schöner.

Platz 4: BONIFACE – Boniface

Platz 5: GIANT ROOKS - Rookery

Platz 6: CAR SEAT HEADREST – Making a door less open

Platz 7: KILLERS – Imploding the mirage

Platz 8: NATION OF LANGUAGE – Introduction, Presence 

Platz 9: I LIKE TRAINS - Kompromat

Platz 10: BOMBAY BICYCLE CLUB – Everything else has gone wrong

Zurück